Alter(n) und Archiv – Ein Gespräch zwischen Boglárka Börcsök und Eszter Salamon
Die Choreografinnen Eszter Salamon und Boglárka Börcsök sprechen über ihre künstlerische Arbeit mit Archiven und den Lücken in der (Tanz-)Geschichtsschreibung – im Spannungsfeld zwischen persönlichen Erinnerungen und politischer Verantwortung.
Eszter: Lass uns mit der Geschichte unseres Interesses am Archiv beginnen.
Boglárka: Mein Interesse am Thema Altern und Archive entstand aus dem Umstand, dass ich Ungarn im Alter von 18 Jahren verließ, um in Österreich und Belgien zeitgenössischen Tanz zu studieren – und später wieder Kontakt zu jenen aufnahm, die ich zurückgelassen hatte. Meine Tanzausbildung fand in einem westeuropäischen institutionellen Rahmen statt, und nachdem ich einige Zeit professionell gearbeitet hatte, begann ich, über mein Studium nachzudenken, insbesondere über die historischen Narrative und Machtverhältnisse, denen ich ausgesetzt gewesen war. Irgendwann habe ich mich gefragt, ob ich mich auch nur an einen einzigen ungarischen oder osteuropäischen Namen erinnern kann, der im Rahmen meines Tanzgeschichtsunterrichts je erwähnt worden wäre.
Diese Überlegung fiel in etwa mit einer Ausstellung im Centre Pompidou in Paris im Jahr 2012 zusammen, mit dem Titel „Danser sa vie“. Die Ausstellung konzentrierte sich auf bedeutende Bewegungen und Künstler*innen von 1900 bis heute, beginnend bei Nijinsky, und verfolgte die Entwicklung des Tanzes im 20. Jahrhundert in Verbindung mit der bildenden Kunst und anderen Bereichen. Dennoch hatte ich damals den Eindruck, dass keine Künstler*innen außerhalb des westeuropäischen und nordamerikanischen Kontexts erwähnt wurden.
Mit dieser institutionellen Lücke konfrontiert, fragte ich mich: Woher kommt mein Mangel an Wissen? Gibt es dafür historische Gründe? Und wie kann ich mich damit künstlerisch auseinandersetzten?
Das führte dazu, dass ich im darauffolgenden Jahr nach Ungarn zurückkehrte, um dort Tanzgeschichte zu recherchieren. Etwa zur gleichen Zeit hatte ich eine tiefgreifende Erfahrung mit meiner Großmutter, die an Alzheimer erkrankt war. Ihre Pflege, insbesondere die Begegnung mit ihrem nackten Körper, hinterließ einen tiefen sinnlichen Eindruck bei mir. Es schärfte meine Sensibilität für das Altern und den alternden Körper, nicht nur auf der Ebene der körperlichen Berührung oder Pflege, sondern auch als Erleben eines Verlusts von Erinnerung und persönlicher Geschichte.
Diese Erfahrungen führten mich allmählich zu Begegnungen mit älteren Tänzer*innen in Budapest, die Teil der Entwicklung des modernen Tanzes in Ungarn waren. Diese Begegnungen ermöglichten mir, Tanzgeschichte durch die Linse des Alterns zu betrachten. Mit der Zeit entwickelte ich eine kritischere Perspektive auf das Archiv und begann gleichzeitig, meine Beziehung zu Ungarn und dessen politischer Landschaft zu hinterfragen.
Eszter: Wir haben ähnliche historische, politische und geografische Hintergründe. Ich gehöre jedoch einer anderen Generation an und verließ Ungarn 1991, nachdem ich klassisches Ballett an der Nationalen Akademie in Budapest studiert hatte. Ich war dazu bestimmt, Ballerina zu werden. Doch ich erkannte relativ früh, dass dies weder dem entsprach, was ich für meinen Körper noch für meine Kunst wollte. Schon als Kind hatte ich auch ungarischen Volkstanz praktiziert. Später konnte ich meine Einstellung zu diesen Ausdrucksformen, die durch den historischen Kontext nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt waren, reflektieren und analysieren. Meine Tanzausbildung war in vielerlei Hinsicht ein Produkt der damaligen politischen Situation, in der moderne Tanzformen schlichtweg nicht existierten. Wegen dieses Vakuums in der Tanzausbildung war ich ausschließlich diesen beiden Tanzformen ausgesetzt. Ihre Repräsentationssysteme waren starr und kodifiziert in Bezug auf Ausdruck und Gender. Keine von beiden hat mich wirklich erfüllt– beide waren extrem dominant und indoktrinierend, sie haben meinen Körper kolonisiert– während die Rote Armee und russische Panzer noch in Ungarn präsent waren.
Nachdem ich Ungarn verlassen hatte, verbrachte ich zehn Jahre in Frankreich als zeitgenössische Tänzerin. Doch allmählich hat mich das mangelnden Hinterfragen der Darstellung weiblicher Körper im zeitgenössischen Tanz frustiert. Als ich begann, als Choreografin zu arbeiten, konzentrierte ich mich daher auf genau dieses Thema.
Welche Narrative sind im Körper verborgen?
Wie wurde er durch meine tänzerische Prägung und die damit verbundenen Ideologien geformt?
Mein Interesse am Archiv entwickelte sich aus einer Reihe von Fragen zum Körper und seiner Geschichte: Welche Narrative sind im Körper verborgen? Was ist die Geschichte meines Körpers? Wie wurde er durch meine tänzerische Prägung und die damit verbundenen Ideologien geformt? Diesen Fragen ging ich in einer Lecture-Performance nach, zu der ich meine Mutter – eine Volkstanzpädagogin –, meinen Bruder – einen Volksmusiker –, sowie weitere Musiker*innen und Kindheitsfreund*innen einlud, mit denen ich diese Erfahrungen der Jugendzeit geteilt hatte.
Die Performance mit dem Titel Hungarian Dances, die 2005 entstand, hatte das Ziel, meine damaligen Erfahrungen und Fragen mit einem westeuropäischen Publikum zu teilen. Sie hat einen Dialog eröffnet über die Spannungen zwischen Tradition und Moderne sowie zwischen unterschiedlichen Identitätskonzepten.
Die Auseinandersetzung mit Populärkultur im Kontext von Hochkultur führte mich weiter zur weiblichen Autobiografie und zu meinen Homonymen – und damit zu Fragen von Geschichtsschreibung und Gedächtnis. Dies war mein Einstieg in die Arbeiten, die ich später rund um das Archiv und performative Denkmäler entwickelte.
Boglárka: Nach meinem Studium habe ich auch den Wunsch gehabt, anders künstlerisch zu arbeiten, da ich das Gefühl hatte, insbesondere durch die belgische Tanzausbildung und P.A.R.T.S. sehr stark ein Produkt eben dieses Systems geworden zu sein.
Es gab klare Mechanismen für den Erfolg – Produktionsweisen, zeitliche Rahmenbedingungen, Formate und so weiter. Ich wollte herausfinden, wie ich meinen Prozess so anpassen und organisieren konnte, dass er mit meinen künstlerischen Interessen übereinstimmte. Und ich fragte mich, inwieweit dies überhaupt eine choreografische Arbeit sein musste.
Andererseits war es für mich aber keineswegs naheliegend, einen Dokumentarfilm zu machen: Zunächst führte ich Interviews mit mehreren Frauen, die mit der sogenannten „Kunst der Bewegung“ in Ungarn verbunden waren. Die meisten von ihnen waren zwischen 80 und 104 Jahre alt.
Ich kann deinen Punkt, aus bestehenden Rahmen auszubrechen – auch was die Körper betrifft, mit denen man arbeiten möchte – sehr gut nachvollziehen. Direkt nach der Ausbildung empfand ich es als einengend, ausschließlich mit Gleichaltrigen zu arbeiten. Die jahrelange Zusammenarbeit mit dir an der Monument-Serie war Teil meines Wachstums- und Reifungsprozesses – verbunden mit dem Wunsch nach einem echten, Generationen übergreifenden Austausch.
Was mein Verhältnis zur Geschichte und zu Archiven betrifft, so hätte mich Archivmaterial allein nicht dazu inspiriert, mit Film zu arbeiten. Ich musste über den konventionellen Archivbereich hinausgehen und mich in den persönlichen Bereich und das subjektive Erzählen von Geschichte hinein begeben. Die Dringlichkeit einen Film zu machen ergab sich aus den persönlichen Begegnungen und der Beziehung zu den drei älteren Tänzerinnen Irén Preisich, Éva E. Kovács und Ágnes Roboz, sowie aus dem Wunsch, sie physisch in den Prozess einzubeziehen.
Eszter: Ich habe 2007 ebenfalls mit Video und dem Konzept des „dritten Raums“ gearbeitet – in einer „Film-Choreografie“ mit dem Titel AND THEN, gemeinsam mit Bojana Cvejić. Für dieses Stück habe ich nach Namensvetterinnen gesucht und schließlich sieben von ihnen eingeladen, die in Ungarn und im Vereinigten Königreich leben, an dem Projekt teilzunehmen. Mit Menschen zu arbeiten, die denselben Namen tragen wie ich – diese zufällige Gemeinsamkeit – und die keine professionellen Performer*innen waren, war ein weiterer Versuch, Choreografie gesellschaftlich relevant zu machen. Da sie nicht auf Tournee gehen konnten, entschied ich mich, sie zu filmen, um ihre Geschichten und ihre Performance festzuhalten.
Damals erkannte ich in den Zwischenräumen – außerhalb der Seitenbühnen und des Bildes, auf der Bühne und auf der Leinwand sowie zwischen den verschiedenen autobiografischen Spuren –, dass Choreografie über das Hier und Jetzt hinaus existieren kann, indem sie Menschen, Orte, Generationen, Praktiken, Geschichten und Geschichte miteinander verbindet. Das hat mich dazu inspiriert, mich weiter mit Erzählweisen in Form von Dokumentationen, Fiktion und dem Medium Film zu beschäftigen.
Du hast erwähnt, dass du überdenken musstest, welche Form oder welches Medium sich am besten eignet, um dein Thema möglichst prägnant zum Ausdruck zu bringen. Zwar eröffnen Theater und Performance vielfältige Erfahrungsräume, doch zugleich blenden sie bestimmte Perspektiven und Subjektivitäten aus.
Boglárka: Tatsächlich stößt man – gerade wenn man über Archiv und Alter spricht – auch an Grenzen dessen, was ein Körper leisten kann: Manchmal kann ein Körper nicht mehr auf der Bühne auftreten. Bei den Dreharbeiten wurden die körperlichen Einschränkungen der älteren Tänzer*innen deshalb zu einem entscheidenden Faktor, um die Arbeitsbedingungen ihrem Alter anzupassen. Als wir mit ihnen filmten, war Irén 101 Jahre alt, Ágnes in ihren 90ern und Éva 95.
Nicht nur überlagerten sich ihre privaten Lebenswelten; zugleich verbanden sich die persönlichen Räume dieser älteren Frauen mit der Tanzgeschichte Ungarns sowie den sozialen und politischen Kontexten, die sie im Laufe ihres Lebens durchlebt hatten. Wie du schon erwähnt hast, war moderner Tanz in den 1950er-Jahren verboten, und diese Generation von Frauen trägt die Erfahrung dieses Verbots in ihren Körpern. Über Jahrzehnte wurden private Wohnungen zu Orten, an denen Menschen in der „zweiten Öffentlichkeit“ auftraten, tanzten oder neo-avantgardistisches Theater inszenierten.
Ich begann, diese privaten Räume als temporäre Bühnen zu begreifen. Wenn man mit Menschen in so hohem Alter arbeitet, wird einem bewusst, dass man ihre letzten Auftritte archiviert. Dennoch sehe ich diesen Prozess weniger als Bewahrung oder Fixierung, sondern vielmehr als Schaffung eines Beziehungsraums.
Eszter: Ich kann mich sehr gut mit dem Konzept eines relationalen Raums identifizieren. Die vielen Fragmente aus den Leben der verschiedenen Eszter Salamons – geprägt von unterschiedlichen Regionen, kulturellen Hintergründen, Sprachen und Generationen – fügten sich zu einem fiktionalen Werk zusammen, dienten aber zugleich als Mittel, die Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis ins Jahr 2007 zu erzählen und sich auf sie zu beziehen. Diese Form der Archivierung, die auf der Grundlage von Interviews entstanden ist, hat eine multidimensionale, bislang ungesehene Perspektive eröffnet. Mein Wunsch, weibliche Erfahrungen einem kollektiven Bewusstsein zugänglich zu machen, hat das Projekt angetrieben. Historisch ist die weibliche Autobiografie eine marginalisierte Erzählform. Indem wir sie in den Mittelpunkt stellen, wird sichtbar, wie historische Narrative in patriarchalen Gesellschaften entstehen – auch in der Geschichte des westlichen modernen Tanzes.
Uns beide interessiert, wie wir unser Verhältnis zur Geschichte hinterfragen können, und dieses Verhältnis hat wiederum seine eigene Geschichte. Damit kommen wir zur Frage der Positionalität, die stets präsent ist. Positionalität bestimmt, wie wir lernen, worauf wir unseren Blick richten, was wir hervorheben – und was wir ausblenden.
Wie setze ich mich ins Verhältnis zum Kontext, in dem ich arbeite, im Verhältnis zum Kontext, aus dem ich herkomme?
Boglárka: Eine frühe Forschungsfrage kam mir gerade wieder in den Sinn: Wie setze ich mich ins Verhältnis zum Kontext, in dem ich arbeite, im Verhältnis zum Kontext, aus dem ich herkomme? Mich interessiert, wie situiertes Wissen entstehen kann, wenn man der eigenen Prägung aufmerksam zuhört.
Während ich den Geschichten der älteren Frauen gelauscht habe, faszinierte mich, was sie erzählten und was sie unausgesprochen ließen – die Pausen, das Schweigen und die Negativräume, in denen sich Leerstellen zeigten.
Ich begann, mich für diese Art des Zuhörens zu interessieren: Menschen zuzuhören, deren Leben und tänzerischer Werdegang von vielfältigen Brüchen durchzogen sind – persönlichen, gesellschaftlichen und politischen –, darunter auch das Verbot des modernen Tanzes. Dieses Zuhören wurde für mich zu einer Form Generationen übergreifender Verantwortung und Solidarität. Ich wollte die Geschichten dieser Frauen mit meiner eigenen Generation in Ungarn verbinden – einer Generation, die es heute mit einer Kulturpolitik der Ausmerzung zu tun hat. Dieses Verständnis wurde zu einem Leitprinzip meines kritischen Umgangs mit ihren subjektiven Erzählungen und den Archivmaterialien und ging über eine rein ästhetische Betrachtung des alternden Körpers hinaus. Ihre Geschichten können aus unterschiedlichen Blickwinkeln und subjektiven Standpunkten erzählt werden, denn es gibt in diesen Erfahrungen nicht nur eine einzige Wahrheit.
Eszter: Dein Hinweis, dass es nicht den einen besten Weg gibt, Geschichten zu erzählen oder eine Verbindung zur Geschichte herzustellen, ist wichtig. Er macht deutlich, wie stark Interpretation und Subjektivität die Geschichtsschreibung prägen. Für uns Künstler*innen stellt sich dabei stets die Frage, welchen Stimmen wir Gehör verschaffen – sei es mithilfe von Mikrofon und Kamera oder schlicht durch das Schaffen eines Raums des Zuhörens. Genau darüber haben wir während unserer gemeinsamen Arbeit über Leben und Werk der deutschen Avantgarde-Tänzerin und Künstlerin Valeska Gert gesprochen.
Als ich vom Museum der Moderne in Salzburg die Einladung erhielt, mit dem Derra-de-Moroda-Archiv zu arbeiten, stand ich vor einer Entscheidung. Nachdem ich herausgefunden hatte, dass Derra de Moroda mit dem NS-Regime kooperierte und Choreografien für eine Nazi-Tanzkompanie entworfen hatte, nahm ich die Einladung zwar an, entschied aber, das Archiv selbst nicht zu benutzen. Stattdessen schlug ich vor, diese und andere historische Fakten im Rahmen des Projekts explizit zu thematisieren.
Angesichts bestimmter institutioneller Positionierungen zur Geschichte des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit in Deutschland – und der Erkenntnis, wie sehr solche Positionen historische Auslassungen fortschreiben – drängt sich die Frage auf, welche Verantwortung Künstler*innen tragen, zu einer umfassenderen Geschichtsschreibung beizutragen.
Boglárka: Gerade heute angesichts eines wiederauflebenden Faschismus sind solche Bemühungen von großer Bedeutung. Sie können nicht nur beeinflussen, wie wir die Gegenwart wahrnehmen, sondern auch, welche Zukunftsbilder wir entwickeln.
Aufgezeichnet von: Boglárka Börcsök Transkribiert und deutsche Übersetzung: Jette Büchsenschütz Englisches Lektorat: Zsolt Kozma