There is always space for more.
Über die Selbstverständlichkeit in jedem Alter zu tanzen.

Peter Pleyer 

Tanz hat eine lange Tradition, junge und gesunde Körper zu zelebrieren. Peter Pleyer reflektiert wie Release- und Improvisationstechniken sein Verständnis von Tanz geprägt haben und wie tanzen – als Lebenspraxis und als Beruf – auch im höheren Alter selbstverständlich sein kann – und sollte.

Im ersten Jahr meiner Tanzausbildung am European Dance Development Center (EDDC) an der Kunsthochschule in Arnhem/Niederlande zeigte meine Lehrerin Eva Karczag ein Bild dreier Röntgenaufnahmen von Händen: eine Kinderhand, eine erwachsene Hand und die Hand einer Seniorin. Deutlich sichtbar waren die großen Unterschiede in den Abständen zwischen den einzelnen Knochen. Bei der Kinderhand waren diese Abstände noch sehr groß; in der erwachsenen Hand lagen die Knochen enger beieinander, jedoch mit weiterhin erkennbaren Zwischenräumen in den vielen Gelenken. In der Hand der Seniorin hingegen waren die Gelenkspalten nahezu vollständig verschwunden. Dieses Bild wurde für mich zu einem Schlüsselmoment und legte den Grundstein für meine Überzeugung und meinen Wunsch, die Selbstverständlichkeit zu bewahren, bis ins hohe Alter beweglich zu bleiben – und zu tanzen.

2024 bin ich 60 geworden – und sogleich wurde ich gefragt, einen Text über meine Erfahrungen von Tanz als Beruf im Alter zu schreiben. Zunächst begann ich darüber nachzudenken, warum ich eigentlich immer noch tanze – und zwar nicht nur als Hobby, sondern vor allem als Beruf: Was treibt mich an?

Die Antwort liegt für mich in der Selbstverständlichkeit: Natürlich werde ich weiter tanzen – solange ich kann und möchte. Wie viele andere Künstler*innen sehe ich Tanz als einen lebenslangen Prozess. Aufhören kommt nur dann in Frage, wenn ich es bewusst entscheide, nicht weil es der gesellschaftlichen Erwartung entspricht.

Ein weiterer Aspekt liegt für mich in der Geschichte des Tanzes begründet, in die ich eingebunden bin. Mit meiner Ausbildung an der EDDC stehe ich in einer Entwicklungslinie von Tanztraditionen, die unter anderem von Anna Halprin und Simone Forti geprägt wurden. Meine Lehrer*innen Eva Karczag, Yoshiko Chuma, Nancy Stark Smith, Mary Overlie, Steve Paxton und viele andere haben ebenfalls bis zu ihrem Tod getanzt oder tanzen selbstverständlich noch immer.

Woher kommt also diese Selbstverständlichkeit?

Sie wurzelt in Prinzipien des zeitgenössischen Tanzes, die sich im letzten Jahrhundert entwickelt haben und die in den 1990er Jahren in meiner Ausbildung zentral waren: Release-Techniken wie „Anatomical Release“, wie sie von Eva Karczag unterrichtet wird, sowie verschiedene Formen der Improvisation allen voran die Contact Improvisation – nicht nur als Tanztechnik, sondern auch als Methode der Gemeinschaftsbildung. In der Improvisation geht es dabei immer um Varianten, Eigenheiten und Abweichungen von einer Norm, also auch von normativen jungen Körpern, die in einem klassischen Bild von Tanz oft vorherrschen.1

Während meiner vierjährigen Ausbildung wurde mein Körper (und Geist und Seele) durch tägliches Training und kontinuierliche kreative Arbeit im Tanzstudio mehrfach dekonstruiert, sprichwörtlich auseinandergenommen, bis mir der Teppich unter den Füssen weggerissen wurde, um mich dann wieder zu rekonstruieren, neu zusammen zu setzen und auf meinen Füssen neu auszurichten.

Grundlegend für die Release-Technik ist das Arbeiten mit Vorstellungsbildern, wie sie in der Tradition von Mable E. Todd und ihrem Buch „The Thinking Body“ von 1936 entwickelt wurde.2 Daraus entstanden Ansätze wie „Anatomical Release Technique“ oder „Ideokinesis“, die unter anderem an der School for New Dance Development in Amsterdam (durch John Roland) und am European Dance Development Center in Arnhem (durch Eva Karczag) unterrichtet wurden.

Evas Mantra „There is always space for more“ – die Aufforderung, sich immer wieder Raum zwischen den Knochen, die die Gelenke bilden, vorzustellen: „space for sensation“, „space for the possibility of movement“ – wurde zu einem konstanten Begleiter. Und es blieb nicht nur bei der Kraft der Vorstellung.

Was passiert im Körper, wenn wir beginnen, muskuläre Aktionen nicht nur als Kontraktion, als sich zusammenziehen verstehen? Was passiert, wenn wir erkennen, dass jede Muskelkontraktion eine Verlängerung des Antagonisten, also des gegenüberliegenden Muskels, bedingt? Ist es möglich, jede Bewegung mit dem Fokus auf diese Verlängerung des Antagonisten zu erfahren und zu spüren?

Diese veränderte Wahrnehmung hat tiefgreifende Folgen: Die Räume zwischen den Gelenken bleiben länger offen und die Beweglichkeit bleibt auch im Alter erhalten. Ein einfacher Grundsatz, der jedoch kontinuierliche Übung und konzentrierte Praxis erfordert. Denn obwohl der Abbau von Knorpel und die Degeneration der Gelenke mit zunehmendem Alter fortschreiten, können wir diesen Prozessen entgegenwirken – auch entgegen hartnäckiger Fitnesstrends, die einseitig den Aufbau von Muskeln durch Kontraktion favorisieren.

Ein weiteres Merkmal meiner Tanzausbildung, das mir ein nachhaltiges Tanzen als Beruf ermöglicht hat, ist das Praktizieren von Bewegung aus einer Ruheposition heraus. Ich gehöre zu der Generation von Tänzer*innen, die das Liegen auf dem Boden in der constructive rest position so oft wiederholten – manchmal sogar bis zum Einschlafen –, dass es uns einen ziemlich schlechten Ruf einbrachte. „Das soll Tanz sein?“ oder „Das soll die beste Methode sein, deinen Körper aufs Tanzen vorzubereiten?“ lauteten die skeptischen Kommentare. Und doch war diese Praxis eine wichtige Antitode zum damals vorherrschende Warm-up, das vor allem aus action, action und noch mehr action bestand.

Durch Contact Improvisation wurde aus diesem resting on the floor ein rolling on the floor und schließlich ein fließendes in and out of the floor. Dadurch entstand eine Dynamik, die von der Ruheposition bis hin zu kontralateralem Gehen, Laufen und Springen reichte.

Ein bis heute bestehendes großes Missverständnis der Release-Technik ist die Annahme, es gehe um völlige Muskelentspannung. In diesem Sinne war der Name für diese Technik möglicherweise schlecht gewählt. Tatsächlich geht es jedoch unter anderem darum, unnötige Spannungen wahrzunehmen und zu lösen, sodass das bewegende muskuläre Gleichgewicht zwischen Protagonist und Antagonist in jedem Moment neu und effektiv austariert werden kann.

Eine perfekte Übung aus der Contact Improvisation hierfür ist Steve Paxtons „Stand“ oder „Small Dance“. Dabei stehe ich mit geschlossenen Augen aufrecht auf meinen Füssen und nehme die vielen kleinen muskulären Veränderungen wahr, die durch das Wechselspiel von Halten und Loslassen an verschiedenen Stellen meines Körpers entstehen – Bewegungen, die nötig sind, um aufrecht zu balancieren, ohne die Haltung durch pure Muskelkraft zu erzwingen.

Contact Improvisation – nichts hat mich so nachhaltig geprägt wie diese Tanztechnik und ihre Implikationen für mein Verständnis, in der Welt zu sein: das physische Erleben der Schwerkraft, das Teilen meines Gewichts mit einer Partner*in oder mit den Säulen und Wänden des Studios, die daraus resultierende Balance in einer asymmetrischen und sich ständig veränderten Form – eine spürbare gegenseitige Abhängigkeit. Das Erlernen von Falling-Skills, das Zulassen von Reflexen und die Überwindung der Schwerkraft durch Jumps und Lifts und Shoulder-Spins.

Ein weiterer bedeutender Wandel im Vergleich zum repräsentativen Tanz mit seiner frontalen Ausrichtung ist das dreidimensionale Körperverständnis in der Contact Improvisation: Bewegung in 360°, spherical und improvisiert – frei von vorgegebenen Formen, festen Bewegungsabläufen oder starren Parametern wie Zeit, Geschwindigkeit und Dauer. Die offenen Formate und Jams, in denen Contact Improvisation praktiziert wird, ermöglichen es mir nach wie vor, auch in meinem Alter körperlich energetisch – mit selbstgewählten Ruhepausen – mit anderen Menschen zu tanzen.

Jamming als offene Gruppenstruktur bildet auch die Grundlage meiner Arbeit als Choreograf mit der Cranky Bodies a/company, die ich 2020 mitten in der Pandemie zusammen mit meinem Partner, dem Bühnen- und Kostümbildner Michiel Keuper gegründet habe. Die generationsübergreifende Compagnie vereint Tänzer*innen verschiedener Hintergründe und Altersgruppen und nutzt neben offenen Gruppenscores sanfte Methoden wie Release-Technik und Body-Mind Centering, die wir für uns weiterentwickelt haben.

Durch diese generationsübergreifende Ausrichtung begegnen sich unterschiedlichste Erfahrungen und Körper, die stetig voneinander lernen und so den Erfahrungsschatz aller Beteiligten – und hoffentlich auch den des Publikums – bereichern.

Ein weiterer wichtiger Aspekt meiner Arbeit ist das Unterrichten. Dies ist für mich nicht nur eine Möglichkeit, mein verkörpertes Wissen, meine und unsere Methoden und Scores weiterzugeben, sondern auch eine Praxis der lebendigen Archivierung. Indem ich diese weitergebe, entsteht ein Archiv, das nicht fixiert, sondern prozesshaft und wandelbar bleibt – eine dynamische, verkörperte Form der Wissensweitergabe, die sich durch Überlagerung und das Oszillieren zwischen verschiedenen Scores bei jeder Begegnung kritisch weiterentwickelt.

Das umfasst auch den wichtigen Aspekt der Inklusion und die Rolle, die Contact Improvisation und Release-Techniken dabei spielen. 2023 nahm ich als einer der ältesten Teilnehmenden am DanceAbility Teacher Certification Training beim Impulstanz Festival in Wien teil. Diese von Alito Alessi entwickelte Methode integriert Menschen mit Behinderungen durch Tanz und basiert stark auf Contact Improvisation.

Die gewachsene Verbindung von Contact Improvisation und Mixed-Ability Tanz3 wurden mir im März 2024 schmerzlich bewusst, als Jess Curtis im Alter von 62 Jahren plötzlich verstarb. Mit seiner Company Gravity hatte er diese inklusive Ansätze in der Contact Improvisation weiter entwickelt, besonders in der Zusammenarbeit mit Claire Cunningham. Bei einem Memorial für Jess erzählte sie, wie Jess viele Aspekte seines alternden Körpers – seine Verletzungen nach Fahrradunfällen, das Gehen am Stock – spielerisch und gelassen integrierte und einfach weiter tanzte, choreografierte und unterrichtete.

Ich möchte keineswegs behaupten, dass Altern eine Art von Behinderung ist –  im Gegenteil. Doch wenn wir Inklusion im zeitgenössischen Tanz und den Gedanken any body can dance ernst nehmen, dann sollte auch ein alter oder alternder Körper auf die Bühne. Während Body/Mind-Praktiken im zeitgenössischen Tanz dies nahelegen, sind ältere Tänzer*innen in der klassischen und modernen Tanzwelt noch immer eine Ausnahme. Das muss sich ändern.

Aus dieser Perspektive sehe ich es kritisch, dass es eines vom Bund finanzierten Ensembles ausschließlich für ältere Tänzer*innen (in dem die Tänzer*innen zwischen 40 und 50 Jahre alt sind) bedarf, um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen. Viel inspirierender erscheinen mir dagegen die bahnbrechenden Arbeiten von Florentina Holzinger. Ihr generationsübergreifendes Ensemble zeigt eindrucksvoll, wie Tänzer*innen jeden Alters – darunter auch ihre Dozentinnen der School for New Dance Development – Teil ihrer ziemlich herausfordernden Produktionen sind. Oft bis ins hohe Alter, und, wie im Fall von Ria Higler, sogar bis zu ihrem Tod.

Am Ende geht es nicht nur darum, wer tanzt, sondern auch darum, welches Verständnis von Tanz artikuliert und gefördert wird. Tanz ist also keine Frage des Alters, sondern eine Praxis der Wahrnehmung – ein Erfahren und Gestalten von Bewegung, das sich ein Leben lang weiterentwickeln kann und deren Geschichten noch lange nicht zu Ende erzählt sind. Die Zukunft des Tanzes bleibt – vor allem in Berlin gerade – ungewiss, aber was bleibt ist meine Liebe zum Tanz und die Neugier auf das, was noch kommt: There is always space for more!

Anmerkungen

  1. Vgl. u.a. Martin, Susanne: Dancing Age(ing): Rethinking Age(ing) in and through Improvisation Practice and Performance, Bielefeld: transcript Verlag 2017 und

    Lansley, Jacky und Fergus Early (Hgs.): The Wise Body: Conversations with Experienced Dancers, Bristol: Intellect Books., 2011.

  2. 2001 erschienen die deutschen Übersetzung Der Körper denkt mit: Anatomie als Ausdruck dynamischer Kräfte, Bern: Verlag Hans Huber.

  3. Steve Paxton gründete 1986 zusammen mit Anne Kilcoyne Touchdown Dance, eine Contact Improvisation Tanzkompanie für Menschen mit und ohne Sehbehinderungen, nachzulesen u.a. hier: Dymoke, Katy: Inclusive Dance: The Story of Touchdown Dance, Bristol: Intellect Books, 2023. Steve Paxton unterstützte Alito Alessi bei der Entwicklung von DanceAbility und beschreibt hier einen Workshop: Contact Quarterly Magazin Vol.17 No.1 Winter 1992: Dancing with Different Populations.