Re-Visionen: Körperarchive und Archivkörper in Bewegung

Julia Wehren

Wie können Körper als Archive gedacht werden? Die Tanzwissenschaftlerin Julia Wehren schreibt über verkörpertes Wissen und über das Archiv als Denkfigur, in der Körper auf ihre ‚Ablagerungen‘ hin gelesen werden. Umgekehrt begreift sie Archive ebenfalls als Körper und fragt sich, was ein lebendiges Tanzarchiv braucht und wie es konkret aussehen könnte.

I: Tanzgeschichten sind Körpergeschichten und gründen auf Körperarchiven

Vor rund zehn Jahren schlug ich im Zusammenhang mit künstlerischen Reflexionen von Tanzgeschichte das Konzept der ‚Choreografischen Historiografien’ vor. (Anmerkung 1) Ich wollte damit die Praktiken des Reenactments und der Rekonstruktion, der körperlichen und choreografischen Aneignung und Artikulation von Tanzwissen in einen größeren Kontext der (akademischen) Geschichtsschreibung stellen. Mein Interesse galt dem (selbst-)reflexiven Gestus, dem Suchen nach neuen Formaten und vor allem der Funktion und Bedeutung, die dem ‚Körper als Archiv in Bewegung’ darin zukommt.

Ich verstand Körper als historisch und kulturell formierte, durch Tanztechniken, Stile, Choreografien, Bewegungsmuster plural gewordene Körper, die auf ihre physischen und sensorischen Zustände, das Entstehen derselben und daraus hervorgehende Körperbilder, -techniken und -konzepte hin befragt werden können. Dabei kämpfte ich mit kategorialen Widersprüchen zu psychologisch-physiologischen Betrachtungsweisen von körperlichen Erinnerungs-, Aneignungs- und Wahrnehmungsprozessen. Auch mit archiv- und geschichtswissenschaftlichen Vokabularien wie ‚Quelle’ und ‚Dokument’, deren Funktion ein Erinnerungskörper in ‚Choreografischen Historiografien’ zwar einnehmen kann, die aber als Begriffe doch immer unzureichend und kategorial verschieden sind. Ein Körper ist nicht ‚Material’, ist nicht ‚Quelle’, nicht ‚Dokument’. Nicht den physischen Körper selbst begriff ich in der Folge als Archiv, sondern seine Funktion fasste ich als eine archivische. Es ging mir darum, eine Figur zu finden, mit der das Körperwissen als Bedingung von Archiven begrifflich verstanden werden kann.

Archive des Körpers sind prozesshaft. Sie stellen sich erst im Beziehungsfeld von Körper, Aktion und Artikulation, Transformation, Wahrnehmung und Reflexion her. Um Körper als Archive fassbar zu machen, braucht es deshalb Bewegung: Zwischen dem Erinnerten (der Körper) und der gegenwärtigen Artikulation, der Wahrnehmung (durch unsere Körper), der Imagination und der Reflexion in analogen und virtuellen Räumen.

II: Körper als Archive sind Teil des Archivs des Tanzes

Archiv ist eine Denkfigur. Mit ihr kann ich den Körper als Wissensformation fassen und zugleich die Grenzen dessen, was als Archiv verstanden wird, erweitern. Körper können auf ihre ‚Ablagerungen’ hin gelesen werden, ihr embodied knowledge ist für die Kulturgeschichte aufschlussreich. Körper als ‚Archive der Erfahrung’ sind zentral für das Lernen, Wahrnehmen, Erinnern und Überliefern von Tanz. Sie halten tänzerisches Wissen bereit, das sie in Bewegung erneut zu artikulieren vermögen und transformieren es in der Aktion.

Archive sind konkret. Ich gehe in Archivräume, spreche mit Tanzenden, zeichne Gespräche auf und langzeitarchiviere diese digital. Ich suche Dokumente, schaue Körpern zu und spüre ihnen nach, höre zu und nehme wahr, bewege mich selbst. Es sind performative Stimmen und Handlungen, die gleichzeitig außerhalb und innerhalb der Archive bleiben: in Form von audiovisuellen Medien, Gesprächen, Narrationen, Erinnerungen, Bewegungen, Choreografien und Performances, Darstellungen, kollektiven, singularen, virtuellen Begegnungen. Archive als Körper in Bewegung sind dynamisch, kontingent, implizit und performativ und gleichzeitig explizit, diskursiv, artikuliert. Archive in ihrer Körperlichkeit nachvollziehbar zu machen, heißt auch, ihren performativen Handlungen Orte zu geben, physische und virtuelle, imaginäre und sensorische.

Archive des Tanzes beinhalten Wissen zum Tanz. Sie bewahren es und bereiten es für die Forschung und Weiterverarbeitung auf. Dafür müssen sie es zunächst auffinden,es aufnehmen und ihm für unbestimmte Zeit (auf Dauer) Raum geben. So gesehen sind Archive Durchgänge des Wissens, Schaltstellen, die Quellen bereitstellen und Zugänge zum Tanz schaffen können. Solche Wissenskörper sind auch physische Körper, Erfahrungskörper, Tänzer*innenkörper. Tanzwissen existiert in Erinnerungen der Beteiligten und Betrachtenden und äußert sich über Körper in Bewegung hinaus auch in Erzählungen performativ. Archive sind Körper.

III: Archive des Tanzes sind Körper

Meine Forschung zu Körper als Archiv in Bewegung ist zu einer Zeit entstanden, als der Archivbegriff abermals in Frage gestellt wurde. Institutionelle Archive waren im Begriff sich zu transformieren und erhielten nicht zuletzt durch Körper in Bewegung einen dynamischen Schub. Die kritischen Debatten um die Dokumentation und Archivierung von Tanz spiegeln sich in zahlreichen Initiativen, Kooperationsprojekten und Publikationen wider. Performative Interventionen aktualisieren Materialien und beleben die Räume und Dinge in Archiven. Archive sind selbst beweglich geworden, mobil, virtuell, und auch die Arbeit im Archiv ist längst bewegt-performativ, schließlich macht erst die Nutzung ein Archiv zu einem Archiv. Zahlreiche Sammlungen, Künstler*innenarchive und künstlerische Projekte –choreografische, mobile, temporäre, stetige – bereichern und befragen seither die Archivlandschaft. Sammlungen im virtuellen Raum potenzieren das Angebot, in dem der Algorithmus die Kuration übernommen hat.Wer findet da noch wo was und wie hängt das alles zusammen?

Archivinstitutionen sind in der Regel für die Aufnahme von Beständen und für die Sammlung von materiellen und digitalen Dokumenten eingerichtet. Das Integrieren von Erinnerungen und Reflexionen, von physischen und choreografischen Praktiken fordert bestehende Archiv-Strukturen heraus. Nicht nur neue Begrifflichkeiten und Kategorien sind notwendig, um sie strukturell einbinden zu können, sondern es sind auch andere Räume erforderlich, um sie anderen Nutzungen zugänglich zu machen. Archive sind auch körperlich zu denken. Um das Repertoire des Tanzes als Archiv miteinbeziehen zu wollen, müssen Tanzarchive ihre Archivierungs- und Sammlungsprozesse ausweiten, Begegnungen schaffen, Synergien eingehen, Bewegung zulassen.

Verkörpertes Wissen ist immer auch autobiografisches Wissen. Als Forscherin möchte ich dem Körper als Archiv in den Strukturen und den physischen wie virtuellen Orten eines institutionellen Archivs, welches ich aufsuche, begegnen und mich mit ihm auseinandersetzen können. Ich interessiere mich für die Körper der Tanzenden, aber auch für ihre Erzählungen. Ich möchte wissen, was für ein Körper und was für ein Mensch es ist, der mir Wissen über die Geschichte des Tanzes ermöglicht. Welche anderen Korpora sind Wissenskörper? Ich möchte im Austausch sein. Wer steht hinter dem Archiv? Wer ist das Archiv? In der Archivwissenschaft und -praxis wird zwischen Sammlungen und Archivbeständen unterschieden. Letztere werden übernommen, Sammlungen hingegen gezielt zusammengetragen. Körper machen beides, sie nehmen auf, sammeln ein. Wie werden sie Teil einer Archivsammlung?

Als Wissenschaftlerin wünsche ich mir von einem Archiv Transparenz, Orientierung und Verlässlichkeit. Ich möchte wissen, woher die Dinge kommen, die ich weiterverarbeite, wer sie wie gesammelt hat und in welchem Kontext sie stehen und warum sie in dem Archivzusammenhang zu finden sind, in dem ich sie suche. Ich möchte wissen, wie die Archive und Sammlungen zustande gekommen und gewachsen sind oder zumindest die Möglichkeit haben, es herauszufinden. Ich forme mir daraus ein Bild und lege zugleich offen, wie dieses entstanden ist, wofür ich es brauche, betrachte, zu verstehen versuche.

Archive richten sich an Interessierte des Tanzes. Ihre Publika sind aber divers, zukünftig, unbekannt, auch abstrakt. Die Materialien und unterschiedlichen Korpora tragen immer schon durch ihre schiere Existenz und die Potenzialität der Aktualisierung zu einem übergeordneten Tanz-Diskurs bei. Dafür braucht es Vielfalt und Vielstimmigkeit in Bezug auf Inhalte, auf materiale, digitale, mentale, körperliche und zu imaginierende Wissensformen und mögliche Zugänge. Archive bleiben immer unabgeschlossen.

Anmerkung

  1. Vgl. Wehren, Julia: Körper als Archiv in Bewegung. Choreografie als Historiografie, erschienen 2016 im Transkript Verlag.