Verstaubte Geschichten und subkulturelle Erinnerung

Olympia Bukkakis 

Ausgehend von sehr persönlichen Erinnerungen schreibt die Performancekünstlerin und Choreografin Olympia Bukkakis über Geschichten der Vergangenheit und über subkulturelles Gedächtnis. Dabei nimmt sie ihre eigene künstlerische Performance-und Drag-Praxis in den Blick und reflektiert ihr ambivalentes Verhältnis zu den Überbleibseln der Vergangenheit und ihr Unbehagen gegenüber dem Archiv als autoritäre Institution.

Ich habe, wie kaum jemand anderes, ein zwiespältiges Verhältnis zur Vergangenheit. Als ich drei Monate alt war, starb mein leiblicher Vater unter Umständen, die von einer dicken Wolke der Stigmatisierung umhüllt waren. Seine Eltern, konservative, ordentliche Menschen, die zweifellos nicht verstehen konnten, wie ihrem Sohn so etwas passieren konnte, warfen alle seine Sachen weg. Meine Mutter, eine frischgebackene Alleinerziehende mit Migrationshintergrund und unsicheren Wohnverhältnissen, war nicht in der Lage, irgendetwas von diesen Gegenständen aufzubewahren. Das Einzige, was ich von ihm erbte, war eine alte Jeansjacke (und wahrscheinlich seine Beziehung zum Exzess).

Als ich noch sehr jung war, hatte ich Schwierigkeiten zu verstehen, wer und was mein biologischer Vater (Anmerkung 1) war. Ich begann eigene, Bücher, Postkarten, Bilder und kleine Plastikgegenstände zu horten. Ich selbst wollte niemanden zurücklassen, der erraten musste, wie ich gewesen sei, so wie es mein Vater getan hatte. Im Alter von 8 Jahren machte ich mir Gedanken darüber, ob meine Sachen richtig geordnet waren, ob mein persönliches Archiv in Ordnung war. Würden meine Nachfahren mich durch diese Gegenstände verstehen können? Dieses Verhaltensmuster endete im Alter von 24 Jahren, als ich nach Berlin zog und fast alle meine Besitztümer zurückließ. Die Jacke ging bei dem Umzug verloren. Ich war beinahe erleichtert. 

Seitdem erfüllt mich der Gedanke, Aufzeichnungen für die Nachwelt aufzubewahren, mit einem Gefühl der Beklemmung und Sinnlosigkeit. Es scheint mir, dass es sehr wichtige Dinge gibt, die man aufbewahren und vernünftig ordnen sollte, aber herauszufinden, welche das sind und wie man sie zusammenstellen sollte, entzieht sich mir. Vor allem, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sie ohnehin verloren gehen könnten. Je nach Stimmung oder Lebensphase neige ich dazu, Dinge ängstlich zu horten oder endlos zu prokrastinieren, anstatt die E-Mail abzuschicken oder meine Website zu aktualisieren, oder sogar alles zu ignorieren und den Verlust dieser oder jener Erinnerung, Vorstellung oder dieses oder jenes Textes auf dem Müllhaufen der Geschichte zu akzeptieren. 

Für gewöhnlich sage ich, dass ich kein Interesse an Archiven habe. Wenn ich an sie denke, fühle ich mich nicht wohl. (Anmerkung 2) Als ich mit den Archiven des Studierendenwerks an der Uni konfrontiert wurde und von der schieren Menge an Informationen überwältigt war, empfand ich eine neue und große Dankbarkeit gegenüber den Historiker*innen, die normalerweise zwischen mir und diesem staubigen Chaos stehen. Trotz dieser Abneigung wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass meine Arbeit immer wieder in die Vergangenheit zurückkehrt. Meine Abschlussarbeit Tales From a State of Shemergency (2018), enthielt eine Elegie an meinen Vater und eine Nacherzählung seines Todes in Form einer Stand-up-Comedy-Routine. Außerdem habe ich die Figur des Engels der Geschichte umgeschrieben und als Drag Queen aufgeführt, die lippensynchrone Balladen singt, um denjenigen von uns Trost zu spenden, die in den Trümmern zu ihren Füßen liegen. Das ganze Stück war ein Versuch, (m)eine queere Beziehung zur Vergangenheit zu bearbeiten. Es scheint mir also weder konsequent noch überzeugend zu sein, wenn ich sage, dass ich kein Interesse an der Fähigkeit der Performance habe sich mit Erinnerung und Geschichte auseinanderzusetzen. Ich verstehe, dass diese Art der Arbeit als ein Archiv gesehen werden könnte. 

Wenn ich mir meine Arbeit genau anschaue, sehe ich eine Beharrlichkeit die Vergangenheit zu re-präsentieren. Für A Touch of the Other (2020) befragte ich die Frauen in meiner Familie zu ihren Erfahrungen mit Arbeit und Resilienz. Ich stellte meine eigenen Erfahrungen als Drag Queen, die auf der Straße belästigt wurde, finanzielle Unsicherheit und homo-/transfeindliche Diskriminierung erlebte, ihren Erzählungen über unterbezahlte, unterbewertete Arbeit innerhalb und außerhalb des Hauses gegenüber (insbesondere ihren Erfahrungen als Alleinerziehende, die ihren Partner verloren hatte, als Arbeiterin am Fließband in einer Fleischfabrik und als Krankenschwester im Streik). Das Wissen, das diesen Realitäten und Arbeitswelten innewohnt, war beeindruckend tiefgründig und wurde dennoch in einer bescheidenen und oft zurückhaltenden Weise zum Ausdruck gebracht. Ich verspürte einen starken Drang, dies mit einem Publikum zu teilen. Es war mir wichtig, dass diese Lebenserfahrung irgendwie bewahrt wird, und ich hatte das Gefühl, dass das Publikum von diesen Erkenntnissen profitieren könnte und sollte.

In meinem jüngsten Stück, replay (2023), habe ich eine Litanei von lebenden und toten Drag Queens aufgeführt, gefolgt von weiteren Namen tragischer weiblicher historischer Figuren sowie ihrer fiktiven und mythologischen Vorfahren. Ich forderte das Publikum auf, bei der Aufzählung der Namen zu klatschen. Ich wollte eine Parallele ziehen zwischen der Lebenserfahrung von Drag Queens und cis Frauen und den Geschichten, die ihr Leben beeinflusst haben. Außerdem wollte ich einen Moment des Respekts und des Gedenkens schaffen und gleichzeitig über die perverse Fixierung unserer Gesellschaft auf weibliches Leid nachdenken.

Rückblickend bin ich mit beiden Stücken zufrieden, aber nachdem ich so viel Zeit mit ihnen verbracht habe, glaube ich, dass diese Themen eine dauerhaftere Form der Archivierung rechtfertigen. Der strukturelle Kontext von unabhängigem Tanz und Performance bedeutet, dass ich, um diesen Reichtum an Wissen und Erfahrung zu präsentieren, eine Finanzierung beantragen und erhalten muss, mit der Unterstützung eines angemessen ausgestatteten Theaterraums, der für die Arbeit geeignet ist und Platz für die Aufführung hat. Leichter gesagt als getan in Berlin 2023. Natürlich ist es möglich. Aber es ist nicht so praktisch wie ein Buch oder ein Video. 

Bei Drag musst du alles selbst lernen. Buchstäblich alles. Make-up, Kostüme, Auftritte, Werbung, Moderation, Dokumentation, und dann während der Pandemie: Live-Streaming, Beleuchtung, Ton, die Liste geht weiter. Je älter ich wurde, desto mehr fürchtete ich mich vor der nächsten Fähigkeit, die ich mir aneignen sollte. Für mich ging es bei Drag immer um den Auftritt: das wunderbare Gefühl, für eine bestimmte Zeit in einem bestimmten Raum zu sein und bewusst mit einem Publikum zu interagieren. Im besten Fall sind die anderen Aufgaben unterhaltsame Ablenkungen, im schlimmsten Fall aber sind sie hinderliche Barrieren zwischen mir und dem, was ich tun möchte. Make-up war früher mein größtes Hindernis, inzwischen kann ich es besser (auch wenn es ein Running Gag unter meinen Schwestern ist, dass ich es nicht wirklich trage). 

In letzter Zeit haben Dokumentation und Archivierung bei mir mentale Blockaden ausgelöst, die dazu führen, dass ich sie monatelang oder jahrelang aufschiebe. Manchmal schaffe ich es dann, wie in den meisten Fällen von mentaler Funktionsstörung, alles in dreißig Minuten zu erledigen. Natürlich entscheidet mein Bewusstsein nicht, wann diese Momente der Hyperproduktivität eintreten. 

Diese Denkblockade erinnert mich daran, wie ich während meines Studiums versucht habe, meine Praxis vom improvisierten Sprechen zu verstehen. Ich leitete meine Drag-Performances von Anfang an mit fragwürdigen und unsicheren Konzepten ein (und es war immens wichtig, dass das Publikum diese verstand). Bereits damals zog ich es vor, eine lose Vorstellung von dem zu haben, was ich sagen würde, und dann den Rest der Rede darauf aufzubauen. Ich konnte mich nie recht dazu durchringen, diese Rede aufzuschreiben. Ich habe es versucht, aber es hat einfach nicht geklappt. Nachdem ich diese halb-improvisierte Reden einige Male performt hatte (ich hielt diese oder ähnliche Reden über einen Zeitraum von 9 Jahren immer wieder), verfestigte sie sich zu dem, was Walter Ong einen „mündlichen Text“ nennt. (Anmerkung 3)

Das Problem mit mündlichen Texten ist, dass sie unmöglich sind. Eines der Hauptmerkmale mündlicher Gesellschaften ist, dass sie keine (geschriebenen) Texte verwenden. Aber wir, deren Denken so stark von der Lese- und Schreibfähigkeit geprägt ist, kommen oft nicht umhin, diese Metapher zu verwenden, um mündliche Formen der Wissens- und Kulturvermittlung zu verstehen. Die Lektüre von Ongs Schriften half mir, einen Teil dieser Alphabetisierungs-Voreingenommenheit loszulassen: das Gefühl, dass ich meine Reden zu Papier bringen sollte. Die „Texte“ befanden sich in meinem Kopf, und indem ich sie dort beließ, konnten sie nebulös und spontan, ja lebendig, bleiben. Das Nachdenken über diesen Prozess durch die Brille des mündlichen Erzählens half mir, mich von dem Gefühl zu lösen, dass ich etwas zu Papier bringen müsse, und die Stärken dieser Praxis anzunehmen. (Anmerkung 4)

Ich frage mich, ob die Metapher des Archivs mit all ihren Konnotationen von materiellen Beweisen, Katalogisierung und sorgfältiger Organisation bei mir eine ähnliche mentale Blockade hervorruft wie die geschriebene Sprache. Wenn ich mir meine Arbeit der letzten Jahre genauer anschaue, gibt es einen sehr deutlichen Impuls, Elemente der Vergangenheit aufzuzeichnen und zu präsentieren, die hetero-sexistische, cis-normative und patriarchale Vorurteile aushebeln. Um weiterhin Werke zu schaffen, die als Archive marginalisierter Erfahrungen oder als queere, historiografische Interventionen funktionieren sollen, sollte ich aber vielleicht all das einfach als Geschichten und (Drag-) Shows betrachten und das archivarische Denken anderen überlassen. 

Anmerkungen

  1. Ich habe inzwischen einen anderen Vater. Er ist wundervoll.
  2. In diesem Sinne habe ich für diesen Artikel einige kursorische Nachforschungen angestellt, unter anderem bei Rebecca Schneider (2001) und José Esteban Muñoz (1996), was sehr interessant war und ich sehr empfehle, aber ich habe mich letztendlich entschieden, mich auf meine eigenen Erfahrungen als Produzentin zu konzentrieren.
  3. Walter Ong (1988) Orality and Literacy: The Technologizing of the Word, New York, Routledge.
  4. Jegliche Bedenken, die ich hinsichtlich der Kurzlebigkeit mündlicher Überlieferungen hatte, wurden durch die unglaubliche Beständigkeit der Geschichten Indigener Australier*innen, die den Anstieg des Meeresspiegels bis zum Ende der Eiszeit zurückverfolgen, entkräftet. In gewisser Weise ist es krass, meine dummen Geschichten mit dieser unglaublichen alten kulturellen Leistung zu vergleichen, aber das Prinzip ist aufregend. Diese Form funktioniert! Für mehr Info siehe: www.theguardian.com.