Das Schwarz-weiß-Foto ist von oben aufgenommen und zeigt eine tanzende Menschenmenge, in der Mitte der Menschenmenge eine tanzende Braut in weißem Hochzeitskleid.

Den Tanz erzählen

Isabel Raabe

Die Kuratorin und Kulturproduzentin Isabel Raabe fragt sich, ob Tanz als körperbasierte und flüchtige Kunstform überhaupt archiviert werden kann, und schlägt eine starke Einbeziehung sozialer, spiritueller und politischer Aspekte vor, um der ‚Unmöglichkeit‘ eines Tanzarchivs zu begegnen. Sie berichtet vom Archivbereich Tanz des von ihr co-initiierten Pionierprojekts RomArchive – Digitales Archiv der Sinti und Roma, das das künstlerische und kulturelle Schaffen der Sinti*zze und Romn*ja sichtbar macht, und das beispielhaft für eine Archivpraxis ist, die Widerstand leisten will gegen Fremdzuschreibung, Diskriminierung und Stereotypisierung.

Zu Archivpraktiken des „RomArchive – Digitales Archiv der Sinti und Roma“

Die digitale Archivierung ephemerer Kunst, insbesondere im Bereich des Tanzes, stellt eine große Herausforderung dar. Ich möchte die Frage stellen, ob Tanz überhaupt archiviert werden kann und ob eine Einbeziehung sozialer, spiritueller und politischer Aspekte des Tanzes bei der Bewältigung der Schwierigkeiten von Archivierung helfen kann. Hierbei werde ich das Beispiel des Archivbereichs Tanz des „RomArchive –Digitales Archiv der Sinti und Roma“ betrachten.

Tanz findet in einer Vielzahl von Kontexten statt und wird aus verschiedenen Gründen – sozialen, rituellen, religiösen, therapeutischen, pädagogischen, theatralen und politischen – praktiziert. Gesellschaften und Kulturen aus allen Teilen der Welt haben Tanz, Bewegung und den Körper genutzt, um zu überleben, zu kommunizieren, zu interagieren, zu wachsen und sich weiter zu entwickeln. Tanz ist eine Kunstform mit immateriellem Charakter, und deshalb ist es umso wichtiger, diese zu dokumentieren und zu archivieren. Wie aber kann diese, ihren Ausdruck im Körper findende ephemere Kunstform archiviert werden? Kann der Moment der Interaktion der Tänzer*innen mit Raum, Zeit und Zuschauer*innen überhaupt dokumentiert werden?

Die Macht des Archivs

Wenden wir uns zunächst der Archivkritik zu. Der französische Philosoph Michel Foucault betonte die Machtstrukturen, die mit dem Archiv verbunden sind. (Anmerkung 1) Er argumentierte, dass Archive nicht nur Informationen speichern, sondern auch die Kontrolle über Wissen und Erinnerungen ausüben. Im Kontext des Tanzes bedeutet dies, dass die Auswahl und Aufbewahrung von Tanz in Archiven eine politische Dimension haben. Digitale Archive ermöglichen es immerhin bis zu einem gewissen Grad, diese Machtstrukturen zu dezentralisieren, indem der Zugang zu Tanzwerken breiter gestaltet wird. Es bleibt die Frage: Wer trägt die Sammlungen zusammen? Wer katalogisiert und sortiert? Wer fehlt und bleibt draußen?

Auch der französische Philosoph Jacques Derrida betrachtete das Archiv als einen Ort der Hierarchie und der Unterdrückung von Stimmen und Geschichten. Er forderte eine Dekonstruktion des Archivs, um alternative Erzählungen und Perspektiven zu ermöglichen. Auf ein Tanzarchiv übertragen bedeutet dies, es muss verschiedene Interpretationen und Sichtweisen auf Tanzwerke und -praktiken präsentieren, um der Vielfalt dieser Kunstform gerecht werden.

Und was macht der Tanz im Archiv?

Wie bei jeder Form des Bewahrens, verändert sich das bewahrte Objekt. Es ist vergleichbar mit dem Prozess des Fermentierens. Durch das Fermentieren wird ein Nahrungsmittel konserviert, gleichzeitig verändert es seinen Geschmack, seine Konsistenz, seinen Geruch. Der Tanz verändert sich ganz besonders. Ist es überhaupt noch Tanz, der da archiviert ist? Peggy Phelan, feministische amerikanische Wissenschaftlerin und Gründerin von Performance Studies International, betont, dass die Performance nur in der Gegenwart lebt. Sie schreibt über die „Ontologie der Performance“, wie sie es nennt:

„Performance cannot be saved […] Performance’s being […] becomes itself through disappearance“ (Anmerkung 2)

– Performance kann nicht gespeichert oder dokumentiert werden. Sobald dies geschieht, wird sie zu etwas anderem als Performance.

Der Literatur- und Medienwissenschaftler Philipp Auslander führt diesen Gedanken noch einen Schritt weiter und spricht von einer eigenen Performativität, die vom archivierten Performance-Dokument ausgeht:

„It may well be that our sense of the presence, power, and authenticity of these pieces derives not from treating the document as an indexical access point to a past event but from perceiving the document itself as a performance that directly reflects an artist’s aesthetic project or sensibility and for which we are the present audience.” (Anmerkung 3)

Ich möchte diese Überlegungen zum Archivieren von Tanz voranstellen, um gleichermaßen auf die Grenzen als auch auf die Möglichkeiten eines Tanzarchivs hinzuweisen. Was wir in einem Tanzarchiv finden, ist niemals die Aufführung. Wir können Notationen finden, Fotografien und Videos, Interviews und Presseberichte, Programmflyer und Postkarten. Und sind eben vielleicht gerade die Informationen am spannendsten, die auf die gesellschaftliche, politische und spirituelle Bedeutung des Tanzes hinweisen? Diesen Ansatz verfolgten die Kurator*innen Isaac Blake, Rosamaria E. Kosnic Cisnero, Daniel Baker und Adrian Marsh des Archivbereichs Tanz des RomArchive – Digitales Archiv der Sinti und Roma.

Das Bild zeigt einen bunten Zinnteller mit einem Flamenco tanzenden Paar als Motiv.
Flamenco Tambourin, 1950 - 1969, (c) Daniel Baker
Schwarz-weiß-Bild. Zwei Männer befinden sich auf einem weiten Feld, Rücken an Rücken, beide halten jeweils einen Stock in der Hand und sind in tänzerischer Bewegung. Links von ihnen ist ein Hund zu sehen, über ihren Köpfen erstreckt sich ein weiter Horizont.
Botoló Stick Dance, Ungarn 1955, Foto: Zsuzsanna Bene, (c) Zsuzsanna Bene/Research Centre for the Humanities – Hungarian Academy of Sciences

Die Archivpraxis des RomArchive – Digitales Archiv der Sinti und Roma

Das RomArchive präsentiert in zehn kuratierten Archivbereichen die Künste, Kulturen und Geschichten der Sinti*zze und Rom*nja in Europa und darüber hinaus. Das digitale Archiv wurde von der Kulturstiftung des Bundes gefördert und ging 2019 online. Ich war Co-Initiatorin dieses Pionierprojekts, für dessen Inhalte Kurator*innen aus verschiedenen europäischen Roma- und Sinti-Communities verantwortlich waren. Insgesamt waren über 150 Personen aus über fünfzehn Ländern an der Umsetzung des digitalen Archivs und der Zusammenstellung der über 5000 Objekte beteiligt. Romani Leadership, Sichtbarmachung und Anerkennung des künstlerischen und kulturellen Schaffens der Sinti*zze und Rom*nja sind die zentralen Anliegen des RomArchive. Es will Widerstand leisten gegen Fremdzuschreibung, Diskriminierung und Stereotypisierung gegen Sinti*zze und Rom*nja, die mit zwölf Millionen Menschen die größte „Minderheit“ Europas sind. Das Projekt hat den European Cultural Heritage Award 2019 und den Grimme-Online Award 2020 gewonnen.

Wir haben uns in der Aufbauphase lange mit der Entwicklung von ethischen Richtlinien und einer dazugehörigen Sammlungspolitik für die Zusammenstellung und die Präsentation der Sammlungen beschäftigt. Die ethischen Richtlinien definieren die Zielsetzungen des Archivs und bestimmen den Rahmen und die Prinzipien für das gesamte Projekt. Die Sammlungspolitik klärt, wie sich diese Richtlinien auf die Zusammenstellung und Präsentation der Sammlung auswirken. Sie ernennen beispielsweise Selbstrepräsentation und Romani Leadership, also Entscheidungsmacht und Deutungshoheit in den Händen von Sinti*zze und Rom*nja, zum übergeordneten Prinzip, oder regeln, wie mit Stereotypen oder anderen verletzenden Darstellungen von Sinti*zze und Rom*nja im Archiv umgegangen wird: durch Dekonstruktion und Kontextualisierung, um eine Retraumatisierung zu vermeiden.

Darüber hinaus haben wir uns intensiv mit Archivethik und -technologie befasst, die von inhaltlichen Setzungen nicht zu trennen sind. Betrachten wir eine Suchmaschine und den dahinterstehenden Thesaurus, fällt auf, dass auch technologische Konzepte niemals neutral sind. Archiviertes Wissen wird durch die Struktur von Datenbanken hierarchisiert und Schlagworte bestimmen die Ergebnisse von Suchmaschinen. Katalogisierung und Verschlagwortung müssen daher mit großer Sorgfalt und Sensibilität umgesetzt werden.

Die kuratorischen Konzepte der verschiedenen Archivbereiche waren sehr unterschiedlich. Das Kurator*innenteam des Archivbereichs Tanz wählte einen interdisziplinären Ansatz, der sich bereits in der Interdisziplinarität innerhalb des vierköpfigen kuratorischen Teams widerspiegelt: Isaac Blake ist Tänzer und Choreograf, Rosamaria E. Kostic Cisneros ist Tanzhistorikerin und Flamencotänzerin, Daniel Baker ist bildender Künstler und Theoretiker, Adrian Marsh ist Historiker. Die Vision der Kurator*innen für die Sektion Tanz des RomArchive ist es, die diversen Traditionen, Innovationen und weltweiten Einflüsse des Tanzes der Sinti*zze und Rom*nja aufzuzeigen und das Tanzerbe und die kulturellen Identitäten verschiedener Communities zu präsentieren.

Kalbeliya Dance, India (c) De Kulture Music

Sinti*zze und Rom*nja leben in ganz Europa. Ihre kulturellen Traditionen haben sich unterschiedlich entwickelt und sind meist mit den nationalen Kulturpraktiken verwoben. So auch im Tanz. Die Kurator*innen haben sich daher entschieden, in ihrem Tanzarchiv mit vorhandenen Sammlungen (meist Privatsammlungen) zu arbeiten und diese nach geografischen Regionen aufzuteilen: die Judith Cohen Sammlung (Bulgarien und Portugal); die Privatsammlung der Kurator*innen Cisneros und Baker (Spanien); zwei separate Minisammlungen von Pétia Iourtchenko und Simon Renou (Russland und Frankreich), die über eine Lehrer-und Schülerbeziehung verbunden sind; eine Sammlung mit Fotos und Zeichnungen der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; die Ivana Nikolic Sammlung (Italien und Serbien); die Blake und Cisneros Privatsammlung (Großbritannien); die Clog-Dancing Sammlung (Großbritannien); die Privatsammlung Adrian Marsh (Türkei); die Sammlung des renommierten Romafest Tanzensemble (Transsilvanien/Zentralrumänien); eine Sammlung zu den wichtigsten Roma-Tanzfestivals (Frankreich und Norwegen); und die Indien-Sammlung aus Rajasthan, das als die Region gilt, aus der die Rom*nja einst Richtung Europa aufgebrochen waren. Darüber hinaus widmet sich RomArchive in einer eigenen Archivsektion dem Flamenco, der zur spanischen Nationalkultur wurde, ohne dessen Ursprünge in der Rom*nja-Kultur ausreichend anzuerkennen.

In den Sammlungen des Archivbereichs Tanz finden sich vor allem Fotos, Plakate und Programmhefte, Objekte (Kostüme, Tamburine, Figuren) sowie einige Videos. Diese sind, der Praxis des „Digital Storytelling“ folgend, in kontextualisierende Texte eingebunden. Die Kurator*innen verfolgen bei der Präsentation der Sammlungen verschiedene kritische Ansätze.

Der soziologische Ansatz fokussiert auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge, der ideologische Ansatz untersucht die Bedeutungsmuster und Ideen, die im Inhalt kodiert sind. Der strukturalistische Ansatz analysiert die Bedeutung von Sammlungsobjekten in Bezug auf herrschende Machtstrukturen. Geschlechtsspezifische Ansätze konzentrieren sich auf die Darstellung und Konstruktion von Geschlechterrollen. Alle Ansätze sind miteinander verknüpft und können sich gegenseitig ergänzen. Es ist nicht der Tanz selbst, der hier archiviert wurde, um auf die anfangs zitierte These von Peggy Phelan zurückzukommen: Hier wird Tanz erzählt.

Anmerkungen

  1. Michel Foucault „The Archeology of Knowledge”. 2002. Routledge, London.
  2. Peggy Phelan „Onthology of Performance” in „Unmarked. The Politics of Performance. 1993. Routledge. p. 143.
  3. Philip Auslander „The Performativity of Performance Documentation” in PAJ: A Journal of Performance and Art (28). 2006. Cambridge, Massachusetts.