Über den Kanon – oder: Warum tanzende Geister in Konserven nicht überleben, maybe.

Mariama Diagne

Ausgehend vom ghanaischen dwarf (ein Zwergwesen), einer Figur des ‚Überschreitens‘, denkt die Tanzwissenschaftlerin Mariama Diagne über Kanon und Konserven nach, und über den Zusammenhang von kolonialen Kulturpraktiken mit dem Entstehen europäischer Archive. Worin könnte heute eine Kanonkritik oder eine mögliche Dekanonisierung bestehen? Ist es möglich (und wenn ja für wen), sich einem herkömmlichen Archivieren zu entziehen und der klassischen ‚Konserve‘ zu entkommen?

Im Sommer 2023 unternahm ich gemeinsam mit einer Gruppe embodied researcher der IFTR-Konferenz (International Federation for Theatre Research) an der University of Ghana einen Fieldtrip und besuchte neben Cape Coast Castle und Elmina Castle, den zwei größten Festungen und Knotenpunkten des Transatlantischen Sklavenhandels, auch den Kakum National Park. Während einer Nacht in einem Baumhaus im Regenwald trat ein schwebendes Wesen zwischen unsere Körper und berührte unsere Beine. Dabei zog es in kleinen Sprungintervallen im spitzen Winkel seine Knie hoch. Die Physis glich einem dunkeldichten Schatten, maybe, mit kleinen leuchtenden Augen, hellgrün oder gelb, maybe; mit Armen oder Ästen, maybe; mit Haaren oder im Wind wehendem Laub, maybe. Im Hüpfen stieß das Wesen ohrenbetäubende Schreie aus, oder war es still? Maybe. Ich erinnere mich an mein Rufen: Please stop! Ich war weder hellwach, noch bloß träumend, sondern schlafend aufmerksam. Hatte ich Angst? Maybe. Den Deutungen einiger ghanaischer Mitreisender der Gruppe zufolge, handelte es sich übersetzt um ein dwarf-Wesen (Zwergwesen). Ein solches würde – selten – in umliegenden Dörfern wohnende Menschen nachts in den Wald führen und über lange Zeiträume in die Kunst der Heilkräuterpraxis einweihen. dwarf, wie ich die Erscheinung hier nennen möchte, war in jener Nacht anwesend. Der Druck der Fußtritte war zwar fest, jedoch zu leicht, um der Schwerkraft nachgeben zu müssen. dwarf hinterließ mit einer luftigen ‚Gangart‘ einen Ein/druck, einen Ab/druck, eine Spur. Was it a dance?  Was verbindet ein Schreiben über dwarf‘s Bewegungen mit dem Themenpaar ‚Kanon und Konserven‘?

Mein Text Über den Kanon knüpft an Aimé Césaires Text Über den Kolonialismus (1950) an. Für Kanondebatten scheint mir darin folgender Gedanke aufschlussreich: Selbst, wenn sich die präkoloniale Zeit durch „taktvolle Zivilisationen“ (Anmerkung 1) auszeichnete, sei eine Rückkehr nicht mehr möglich. Césaire, Poet und Politiker, betonte mit Nach/druck die Notwendigkeit eines Überschreitens kultureller Konzepte:

„Für uns [Schwarze Menschen afrikanischer Sozialisierung, M.D.] liegt das Problem nicht in einem utopischen und sterilen Versuch der Wiederholung, sondern im Überschreiten. Wir wollen nicht eine tote Gesellschaft wieder zum Leben erwecken. Das überlassen wir den Liebhabern der Exotik.“ (Anmerkung 2)

Wie in Europa von dwarf erzählen, ohne ein Wesen und mich in der Kammer der Exotik, der Mystik wieder zu finden, ohne die Geister des Primitivismus eines Carl Einsteins wachzurufen („Das letzte Drama der afrikanischen Kunst spielt im Wald. Dort ist noch eine elementare Kunst lebendig[…]“(Anmerkung 3)), ohne mit einer Story from Africa Fetische bedienen zu müssen, ohne dwarf als tanzenden Körper in einem Kunstgenre zu konservieren? Mit welchem Bewegungskanon müsste dwarf mithalten, wenn die Suche nach Ähnlichkeiten beginnt und Vergleiche entstehen? Würde dwarf die Konserve mit ihren Spiegelbildern (specular devices) (Anmerkung 4) überleben? Nach Ghana zu reisen, war für mich als Schwarze Deutsche und Nicht-Ghanaerin mit einem mehr als verbunden: mit Sehnsucht, Vorsicht und Pflicht zu Offenheit. Saidiya Hartman beschreibt ein solches mehr als in ihrem Buch Lose Your Mother (2007):

„I arrived in Ghana intent upon finding the remnants of those who had vanished. It’s hard to explain what propels a quixotic mission, or why you miss people you don’t even know, or why skepticism doesn’t lessen longing. […] I wanted to bring the past closer. I wanted to understand how the ordeal of slavery began. I wanted to comprehend how a boy came to be worth three yards of cotton cloth and a bottle of rum or a woman equivalent toa basketful of cowries.” (Anmerkung 5)

Hartman ist Urenkelin karibischer US-Amerikaner*innen, die die Jim Crow-Zeiten der USA erlebten, aber wie viele über diese nicht sprechen konnten. Das mehrals ist ein Spüren und Wissen um ein unaufhörliches Nachleben der „dark days“. (Anmerkung 6) Die Vergangenheit vergeht nicht, sie bleibt stehen, wenn Besuchende durch die Door of No Return geht, wie sie in Cape Coast Castle, Elmina Castle oder Goree (Senegal) steht. Es ist eine Tür (oder besser Wandloch) mit Tritt ins offene Meer, hinüber zu den Frachtern, die body-goods (Körper als Güter) über den Atlantik verschifften.

Über den Kanon, das Einhegen von kulturellen Praktiken als Kulturgut, als Währung, lässt sich nicht ohne ein Einbeziehen der Kenntnisse um international koloniale wie generell dehumanisierende Kulturpraktiken mit Körpergütern nachdenken, die das Entstehen von europäischen Archiven oder das der Metaphysik strukturell einleiteten. (Anmerkung 7)

Bewegungsgeschichten von Menschen und Geistern aus der Kolonialzeit befinden sich in Archiven, verschwinden jedoch in Zwischenräumen von Registern und Ontologien, damit ‚solche‘ Geister die Sagen einer Dominanzkultur in Frieden lassen. (Anmerkung 8) Erst im Zusammendenken der Praktiken, wie es die Tanzforschung mit Blick auf „Fiktive Erinnerungen“ oder Bewegungen im „Anti-Kanon“ zunehmend unternimmt (Anmerkung 9), kann nachvollziehbar werden, worin Kanonkritik oder eine mögliche Dekanonisierung (Anmerkung 10) bestehen könnte, wie sie Bonaventure Soh Bejeng Ndikung denkt. Welche Fragen müssten gestellt werden, um entscheiden zu können, ob, wie, wann und welche Praktiken des Immateriellen zum Teil einer Erinnerungskultur werden können? Sich dieser Verschränkung zu widmen, kann durchaus lähmen. Dennoch, das Archivieren ist als Praxis, als Archäologie, gerade für jene Geschichten unabdinglich, die zur „institution of memory and an idiom of remembering” (Anmerkung 11) werden müssen, oder als „participatory archive“ eine „expanded notion of archivisation“ (Anmerkung 12) begleiten. Archivieren bildet die Gedächtnisspeicher einer Gesellschaft. Nur: Anders als die Arche Noah mit ihrer ersten „Sammlung der repräsentativen Objekte von Welt“ (Anmerkung 13), hätte sich, so Wolfgang Ernst, im 20. Jahrhundert vor allem die Zeitlichkeit von der „Endzeit“ hin zur „Entzeitlichung“ verändert. „Das Archiv wird zum Zustand.“ (Anmerkung 14) Es scheint um ein Verhandeln genau dieses Zustands zu gehen, wenn Debatten um ein Festhalten an Konventionen des Kanons laut werden. dwarf im Schriftbild dieses Textes ist nicht nur eine Figur des Überschreitens, die sich „sterilem“ (Anmerkung 15) Archivieren entzieht. dwarf ist, maybe, ein„Quasi-Gespenst“ (Anmerkung 16), wie Jacques Derrida es denkt, das mit den Qualitäten einer übersinnlichen Leichtigkeit ausgestattet ist. Als spectre mit Körpergewicht verkörpert dwarf eine Sehnsucht nach dem Schwerelosen. Dieser ganz alte menschliche Wachtraum, der insbesondere seit der Romantik durch Imaginieren von Elementargeistern sowie im Erfinden von Techniken der Bewegung und des Raumes eine Illusion von Schwerelosigkeit erzeugt, bestimmt den Kanon der Europäischen Klassik. Es scheinen die „Art(l’espece), der Anblick (l’aspect) und das Gespenst (le spectre)“ (Anmerkung 17) in Konstellation zu sein, die im Regenwald sowie auf der Bühne heimelige Gewissheiten herausfordern.

Kann ein dwarf-Wesen, einmal beschrieben und als Erscheinung in Text übersetzt, der unmittelbaren Transparenz der klassischen Konserve entkommen? Maybe – wenn es „careful concealer“ (Anmerkung 18) gibt, die Geheimnisse bewahren, wie Derrida etwa den verschleiernden Archivar Sigmund Freud nennt. Maybe – wenn diese careful concealer mit care, Sorgfalt, das umsetzen, was Édouard Glissant alsRecht auf Opazitätfordert: „Opacities must be preserved“. (Anmerkung 19)

Anmerkungen

  1. Césaire, Aimé, Über den Kolonialismus[1950], Berlin: Alexander Verlag 2021, S.50.
  2. Césaire, S. 50.
  3. Leeb, Susanne, „Die Zeitschrift Documents(1929-30). Für eine materielle Kultur“, in: Tanz & Archiv: ForschungsReisen, Heft 7, hg. v. Irene Brandenburg, Nicole Haitzinger und Claudia Jeschke, München: epodium 2017, S. 22-33.
  4. „What the archive produces is a specular device, a fundamental and reality-generating hallucination.” Mbembe, Achille, Necropolitics, Duke University Press: Durham and London 2019, S. 173.
  5. Hartman,Saidiya V., Lose Your Mother: A Journey along the Atlantic Slave Route, New York: Farrar, Straus and Giroux 2007, S. 17.
  6. Hartman, S. 16.
  7. Siehe hierzu Didi-Huberman, Georges, Ebeling, Knut, Das Archiv brennt, Berlin: Kadmos 2007.
  8. Mbembe, Achille, Politik der Feindschaft, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 210.
  9. Siehedie September/Oktoberausgabe von tanzraumberlin 2023 mit den Beiträgen von Kirsten Maar, “Fiktive Erinnerungen und ihre Kontexte”, und Anna Chwialkowska „Permanente Gefängnisausbrüche. Kanon, Anti-Kanon und Somatics“. tanzraumberlin.de/magazin [Zugriff am 30. September 2023].
  10. Ndikung, Bonaventure Soh Bejeng, “The Globalized Museum? Decanonizationas Method: A Reflection in Three Acts —Mousse Magazine and Publishing”, 5 April 2017. moussemagazin.it/magazine/the-globalized-museum-bonaventure-soh-bejeng-ndikung-documenta/ , [Zugriff 30.September 2023].
  11. Scott, David, „Introduction: On the Archaeologies of Black Memory“, Small Axe: A Caribbean Journal of Criticism, 122, 2008, v–xvi.
  12. De Laet, Timmy, „Expanding Dance Archives: Access, Legibility, and Archival Participation”, Dance Research Journal Vol.38.2, S.206–229. Hier: S. 215.
  13. Ernst, Wolfgang, Das Rumoren der Archive: Ordnung aus Unordnung, Berlin: Merve 2002,S. 44.
  14. Ernst, S. 40.
  15. Césaire, S. 50.
  16. Derrida, Jacques, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression[Mal d’archive. Une impression freudienne, 1995], Berlin: Brinkmann + Bose 1997, Auszug, in: Ebeling, Knut u.a. (Hg.), Archivologie: Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin: Kadmos 2009, S. 50. Für ihr Erinnern an dieses Gespenst während eines Gesprächs über Waldgeister danke ich Gabriele Brandstetter.
  17. Ebd.
  18. Derrida, S. 60.
  19. Glissant, Édouard,„Transparency and Opacity”, in: ders., Poetics of Relation[1990], Ann Arbor: The University of Michigan Press2010, S. 120.