Tanzarchiv is Present
Antonia Gersch
Der Schwerpunkt meiner Recherche liegt auf der Verbindung von zeitgenössischer Performance und historiografischer Praxis. Ich interessiere mich für das Potenzial choreografischer Arbeiten, die ich aus zwei Perspektiven betrachte: Als künstlerischer Beitrag zur Revision einer noch zu schreibenden Tanzgeschichte, aber auch als Teil zeitgenössischer Produktion.
Aber warum ist die Tanzgeschichte im Spezifischen eine so große Leerstelle? In der Tanzwissenschaft werden kritische Stimmen gegen die Vergänglichkeit des Tanzes laut. Der Tanz ist nicht flüchtiger als jede andere menschliche Tätigkeit. Und doch kann man dem Tanz eine spezifische Eigenschaft zuschreiben, die eng mit seiner Überlieferung verbunden ist: Vor allem mit dem Körpergedächtnis der Tänzer*innen selbst, deren Körper die Träger ihrer eigenen Geschichte sind.
Die westliche Denkweise hat sich lange Zeit an einem linearen Verlauf der Geschichte orientiert. Verschiedene Geschichts- und Zeittheorien haben diese Vorstellung verworfen. Der Historiker R. Koselleck leitet den Begriff der Schichten aus dem deutschen Wort Geschichte ab und nimmt die räumliche Metapher der Gesteinsschichten zum Vorbild. Der Philosoph P. Ricoeur entwickelt die Idee, dass es keine Zukunft, keine Vergangenheit und keine Gegenwart gibt, sondern eine dreifache Gegenwart. In dieser Gegenwart greifen Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart ineinander; verschiedene Zeiten können nebeneinander bestehen. Wie der Minkowski-Raum in der theoretischen Physik, der in dem*der Beobachter*in veranschaulicht, wie Vergangenheit und Zukunft miteinander verbunden sind: Indem sie in der Gegenwart koexistieren.
Ich möchte kurz auf die Radio-Choreografie von Netta Weiser verweisen, in der sie die Tänzerin Hanna Berger verkörpert. Es fallen hier mehrere Zeitebenen ineinander, die erst in der Gegenwart real werden. Hanna Berger ist anwesend, weil Netta sie einlädt, präsent zu sein. Die Abhängigkeit der beiden ist nicht hierarchisch, sondern wechselseitig. Verschiedene Zeiten und Orte werden ineinander geschichtet und auch die Imagination der Zuhörenden nimmt eine eigene Position ein. Die Erfahrung der Tanzgeschichte wird zu einer Erfahrung im Hier und Jetzt, die selbst als eigene Erfahrung verstanden werden kann. Auf diese Weise entsteht eine Erinnerung an Zeiten, die man selbst nur imaginiert hat